Flexible ‚Leitplanken‘ im Erbgut

Genomorganisation, Eingriffstiefe und Geschwindigkeit der Entwicklung

Bislang wurde angenommen, dass Mutationen rein zufällig im Erbgut entstehen und nur die natürliche Selektion darüber entscheidet, welche Veränderungen sich durchsetzen. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen aber, dass das Auftreten von Mutationen im Erbgut natürlicherweise nicht rein zufällig ist, sondern von verschiedenen Ebenen der Genregulation und der Genomorganisation beeinflusst wird. Unter anderem an der Modellpflanze Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand), aber auch an Bakterien, Hefen und Säugetieren wurden in den letzten Jahren zahlreiche Versuche zu Grundlagen der Vererbung, Genregulation, Genomorganisation und Veränderungen im Erbgut gemacht. Dabei zeigte sich: Es gibt verschiedene natürliche Mechanismen, die wichtige Genregionen vor zu häufigen Mutationen schützen.

Genregulation und Genomorganisation können auf diese Weise zwei wesentliche Funktionen erfüllen: Steter Wandel und (unter Umständen rasche) Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen auf der einen, Stabilität der Vererbung als Voraussetzung für das Überdauern der Arten auf der anderen Seite. Die Evolution erfordert einen Balanceakt zwischen Chaos und Ordnung, Veränderung und Stabilität. Dabei setzen Genregulation und Genomorganisation Mutationen flexible ‚Leitplanken‘.

Die Neue Gentechnik (NGT) ist dazu gemacht, diese Schutzmechanismen der Zellen zu umgehen. Aufgrund ihres technischen Potentials kann die NGT beabsichtigte und unbeabsichtigte genetische Veränderungen (Genotypen) und biologische Eigenschaften (Phänotypen) herbeiführen, die über das hinausgehen, was die Evolution und herkömmliche Züchtung hervorgebracht haben. Sowohl der Ort der Genveränderung als auch die resultierende Genkombination können sehr spezifisch für die Neue Gentechnik sein. Im Ergebnis können so Organismen erzielt werden, die neue biologische Eigenschaften oder extreme Varianten bereits bekannter biologischer Eigenschaften aufweisen. Dabei können unbeabsichtigte Neben- und Wechselwirkungen im komplexen Netzwerk der Gene, Proteine und anderer biologisch aktiver Moleküle auch dann eintreten, wenn der Eingriff ins Erbgut gezielt und präzise ist.

Die Unterschiede zwischen den Verfahren der NGT und konventioneller Züchtung sind leicht zu übersehen, können aber schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen. Die Risiken sind vielfältig und betreffen die Ökosysteme, die Landwirtschaft und die Herstellung von Lebensmitteln. Einige Beispiele: Veränderungen in den Inhaltsstoffen von Pflanzen können Auswirkungen auf Wildtiere wie Säugetiere, Vögel oder Insekten und deren Nahrungsnetze haben und sich auch auf deren Interaktionen und Kommunikation mit der Umwelt auswirken. Diese Risiken betreffen beispielsweise Insekten (Bestäuber oder Nützlinge), Symbionten (wie assoziierte Mikroorganismen) oder auch ‚Schädlinge‘. Besondere Risiken sind mit Gentechnik-Organismen verbunden, die sich in der Umwelt ausbreiten. Durch vielfältige und komplexe Wechselwirkungen mit der Umwelt können in den nächsten Generationen Risiken wie invasive Eigenschaften auftreten, die ursprünglich nicht zu erwarten waren.

Innerhalb kurzer Zeiträume könnte eine große Anzahl von NGT-Organismen, die viele Arten umfassen und eine große Bandbreite unterschiedlicher Eigenschaften aufweisen, in die Umwelt entlassen werden.

In der Folge sind auch komplexe Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen NGT-Organismen wahrscheinlich. Dabei erhöhen Freisetzungen im großen Maßstab die Wahrscheinlichkeit für unvorhergesehene Effekte. Selbst wenn einzelne gentechnisch veränderte Organismen als sicher angesehen werden, können sich aus der Kombination ihrer Eigenschaften neue Unsicherheiten und Risiken ergeben.

Ähnlich wie bei der Verschmutzung der Umwelt mit Plastik und Chemikalien muss es nicht immer ein bestimmter gentechnisch veränderter Organismus sein, der Probleme verursacht. Vielmehr kann die Gesamtheit unterschiedlicher Auswirkungen mehrerer NGT Organismen auf die Umwelt entscheidend sein.

Wird die NGT nicht strikt reguliert, droht innerhalb kurzer Zeiträume eine unkontrollierte und massenhafte Freisetzung von Organismen mit Eigenschaften, die nicht durch die Evolution angepasst wurden. Das stellt eine erhebliche Gefahr für die Ökosysteme, die Land- und Forstwirtschaft sowie die Lebensmittelherstellung dar.

 

 

Publication year: 
2020