Heute veröffentlichen mehrere Nichtregierungsorganisationen (NGOs), unterstützt von Unternehmensverbänden, einen gemeinsamen Brief an die Europäische Kommission. Darin fordern sie, den aktuellen Vorschlag für eine Deregulierung von Pflanzen aus Neuer Gentechnik (NGT) zurückzuziehen. Sie betonen, dass jede neue Regelung für NGT-Pflanzen wissenschaftlich fundiert sein muss, um die Sicherheit für Mensch und Umwelt zu gewährleisten. Der Vorschlag der Kommission weise in dieser Hinsicht jedoch irreparable Mängel auf, da die Kriterien für die Beschleunigung des Marktzugangs nicht wissenschaftlich fundiert, sondern willkürlich seien.
Die Organisationen warnen, dass mit neuen gentechnischen Methoden und Werkzeugen wie der Genschere CRISPR/Cas das technische Potenzial, aber auch das Schadenspotenzial rasant gewachsen ist. Mit diesen Werkzeugen ist es erstmals möglich, jedes Gen jeder Lebensform gentechnisch zu verändern und diese genetischen Veränderungen innerhalb der jeweiligen Art zu verbreiten. Diese technischen Möglichkeiten müssen auch bei der zukünftigen Regulierung von NGT-Pflanzen berücksichtigt werden.
Darüber hinaus warnen viele ExpertInnen vor den Risiken der Konvergenz von künstlicher Intelligenz (KI) und Gentechnik. Mit Hilfe der KI können zum Beispiel neue Genvarianten und Genkombinationen geschaffen und viele gentechnisch veränderte Organismen in kurzer Zeit freigesetzt werden. Dabei können alle Anwendungen der Gentechnik einbezogen werden, von NGT-Pflanzen und -Tieren bis hin zur Schaffung neuer pathogener Viren.
„Was künftige Anwendungen der Neuen Gentechnik angeht, sehen wir derzeit nur die Spitze des Eisbergs vor uns. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht direkt darauf zusteuern. Die EntscheidungsträgerInnen müssen sich an die Lektionen erinnern, die sie von der Titanic gelernt haben: Wir sollten immer auf diejenigen hören, die im Mastkorb sitzen und ihr Fernglas benutzen. Verlassen Sie sich nicht auf ExpertInnen, die Ihnen sagen, dass das Schiff nicht sinken kann“, sagt Astrid Österreicher, die Testbiotech in Brüssel repräsentiert und am gemeinsamen Brief mitgearbeitet hat.
Die Kommission ignoriert diese Entwicklungen aber und schlägt eine allgemeine Deregulierung von NGT-Pflanzen vor. Dazu führt sie sogenannte „Kategorie 1“-Pflanzen ein, die dem Vorschlag zufolge gleichwertig mit konventionell gezüchteten Pflanzen sein sollen. Auf diese Weise soll der Marktzugang für NGT-Pflanzen erleichtert werden. NGT-Pflanzen dieser Kategorie müssten keine Risikobewertung durchlaufen, bevor sie in die Umwelt freigesetzt oder vermarktet werden und wären von der Überwachung nach dem Inverkehrbringen befreit. Das Grundkonzept ist einfach. Kurz gesagt: Bis zu 20 genetische Veränderungen wären erlaubt, wobei jede von ihnen beispielsweise bis zu 20 Nukleotidveränderungen umfassen könnte. Für einen solchen „magischen Schwellenwert“ gibt es jedoch keine wissenschaftliche Begründung.
Die vorgeschlagenen Kriterien für NGT-Pflanzen der Kategorie 1 lassen eine Vielzahl von Erkenntnissen völlig außer Acht, die zeigen, dass selbst eine geringe Anzahl von Veränderungen im Genom von Pflanzen zu Lebensformen mit neuen Merkmalen führen kann, die sich erheblich von denen unterscheiden, die bei konventioneller Züchtung oder in natürlichen Populationen auftreten. Ohne dies zu berücksichtigen, können die Risiken von NGTs für Umwelt und Gesundheit nicht bewertet werden. Mögliche negative Folgen können unter anderem entscheidende Ökosystemfunktionen wie die Interaktion zwischen Pflanzen und Bestäubern, Bodenorganismen und das Nahrungsnetz über und unter der Erde betreffen. All diese Risiken können einer Risikobewertung entgehen, wenn die von der Kommission vorgeschlagenen Kriterien angewandt würden.
Veröffentlicht wird der Brief 50 Jahre nachdem WissenschaftlerInnen aus aller Welt im Februar 1975 in Asilomar (Kalifornien) zur „Conference on Recombinant DNA“ zusammenkamen, um über die Risiken und die Regulierung der Gentechnik zu diskutieren. Die Situation war ähnlich wie heute: Einige der ExpertInnen riefen zu einem vorsichtigen Umgang mit der Gentechnik auf, während andere bereits die ersten Patente anmeldeten und einen Wettbewerb um die kommerzielle Nutzung gentechnisch veränderter Organismen starteten.
Vor diesem Hintergrund fordern die zivilgesellschaftlichen Organisationen, dass die EU die Zulassung von gentechnisch veränderte Pflanzen, Mikroorganismen und Tiere nicht deregulieren darf. Stattdessen sollten die Ausführungsbestimmungen der geltenden GVO-Verordnung den aktuellen Entwicklungen so angepasst werden, dass das Tempo und die Folgen der Entwicklung nicht außer Kontrolle geraten. Die NGOs fordern daher die Europäische Kommission auf, ihren Vorschlag zur Deregulierung von Pflanzen aus Neuer Gentechnik zurückzuziehen.
Kontakt:
Christoph Then, info@testbiotech.org, Tel 0151 54638040
Weiterführende Informationen:
Letzte Meldung zum Thema Asilomar
Letzte Meldung zum Stand der Verhandlungen in der EU
Fragen und Antworten zur Diskussion um die Regulierung von NGT-Pflanzen